«Lernen, die Panik abzulegen»

Kunst & Baukultur, Film & Multimedia, Literatur & Gesellschaft, Theater & Tanz, Musik

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Zuger Kulturschaffende bangen um ihre Zukunft. Kommt die zweite Welle – und davon gehen Experten aus – wird es noch schwieriger. Denn einigen geht es schon jetzt ans Lebendige.

  • Projektion von Lukas Meier. Der Zuger Künstler steckt seit dem Corona-Ausbruch in Buenos Aires fest.
    Projektion von Lukas Meier. Der Zuger Künstler steckt seit dem Corona-Ausbruch in Buenos Aires fest.
  • Projektion von Lukas Meier auf ein Gebäude in Buenos Aires.
    Projektion von Lukas Meier auf ein Gebäude in Buenos Aires.
Zug (Kanton) – Dieser Artikel ist in der September-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

Hand aufs Herz: Wie viele Konzerttickets haben Sie die letzten Monate gekauft? Vermutlich nicht allzu viele. Kunstschaffende haben zu Recht Hemmungen, überhaupt Konzerte anzusagen, ändern sich die Bedingungen für deren Durchführung doch gefühlt wöchentlich. Und wenn Anlässe angesagt sind, hadert das Publikum. Wer will schon Geld ausgeben für ein Konzert, das womöglich nie über die Bühne geht. Die Ankündigung des Bundes, dass ab 1. Oktober wieder Veranstaltungen mit über 1000 Personen möglich sein sollen, beäugt man skeptisch.
Die Kulturszene hat wegen Corona brutale Monate hinter sich. Insbesondere hart für jene, aber nicht nur, die alles auf die Karte Kultur setzen. Kaum Konzerte, kaum Ausstellungen, kaum Theater. Kaum Einkünfte.
Seit einiger Zeit erholt sich die Schweiz jedoch vom Schock, zögerlich finden erste Konzerte statt, Theater, Lesungen. Doch für wie lange? Experten sind sich nämlich einig. Eine zweite Corona-Welle ist wahrscheinlich. Gemäss Mister ­Corona Daniel Koch werde es die Schweiz nicht ohne zweite Welle durch den Winter schaffen, sollten wir weitermachen wie bisher. Eine Horrorvision für viele Kunstschaffende, denn schon jetzt ist’s bei vielen finanziell eng.
Wo also wenden sich Zuger Kulturschaffende hin, die in der Bredouille stecken? Etwa an die Stadt. Der Zuger Stadtrat hat im Frühling einen Corona-Fonds im Umfang von 10 Millionen Franken geäufnet, der mitunter Kunstschaffenden helfen soll, die selbst mit kantonaler und nationaler Hilfe nicht auf ihr benötigtes Minimum kommen. Direktbetroffene konnten bis Mitte August ein entsprechendes Gesuch an die Stadt stellen. Im September will der Stadtrat über die Gesuche befinden, danach der Grosse Gemeinderat.

Viele Anfragen beim Kanton
Auf kantonaler Ebene ist das Amt für Kultur die Anlaufstelle für krisengeplagte Kulturschaffende. «Wir hatten viele Anfragen in den letzten Monaten», erklärt der Amtsleiter Aldo Caviezel. «Kulturschaffende gelangen an uns, weil sie leere Agenden haben, keine Engagements mehr, kein Einkommen. Und weil ihre EO- und Kurzarbeitsentschädigungen nicht ausreichen zum Überleben.»
Damit’s den Kulturschaffenden nicht ans Lebendige geht, erliess der Bundesrat die Covid-Verordnung Kultur, um die wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus im Kultursektor abzufedern. Diese beinhaltet die Nothilfe für Kulturschaffende, die Hilfen für Vereine im Laien- c  bereich sowie Ausfallentschädigungen für Kulturschaffende und Kulturunternehmen. Die Ausfallentschädigungen werden durch die Kantone vollzogen, Gesuche können noch bis 20. September 2020 eingereicht werden. Das dringliche Covid-Bundesgesetz soll die Massnahmen ablösen und in veränderter Form weiterführen. Das Gesetz ist aktuell in der Beratung im Parlament.
Nur: Irgendwann im Frühling hat wohl jede Band gemerkt, dass die Lage zu unsicher ist, um überhaupt Konzerte zu planen. Was also mit den Konzerten, die wohl ohne Corona über die Bühne gegangen wären? Auch diesen Umstand berücksichtige die Verordnung, wie Caviezel erklärt. «Wenn plausibel dargelegt werden kann, dass ein Engagement stattgefunden hätte, gilt dies als Ausfall und kann angegeben werden. In den Kantonen herrschen jedoch unterschiedliche Umsetzungen diesbezüglich, respektive der Plausibilisierungsgrad kann variieren.»
 
Instrumente verkaufen
Caviezel erklärt, dass sein Amt noch immer sehr gefordert sei von den Gesuchen betreffend die ausgefallenen Veranstaltungen und Projekte. Der Kultursektor sei der erste gewesen, der von den Massnahmen betroffen gewesen sei und werde der letzte sein, der davon befreit werde.
«Viele professionelle Künstlerinnen und Künstler aller Sparten stehen vor dem finanziellen Abgrund, Musiker verkaufen ihre Instrumente, um ihr ohnehin bereits bescheidenes Leben zu finanzieren, die prekäre Situation bedroht die kulturelle Vielfalt unseres Landes und kann verheerende gesellschaftliche Auswirkungen haben», wird der Amtsleiter deutlich. «Wer nun schulterzuckend von einer natürlichen Ausdünnung spricht, tritt unsere Werte mit Füssen. Das Überleben des Mainstreams und Absterben der Innovation, der Nische und des Experiments wäre eine düstere Aussicht.» Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines professionellen Kulturschaffenden in der Schweiz liege bei 40 000 Franken. «Normalerweise, ohne Corona!», so Caviezel.
Selbständig erwerbende Kulturschaffende können, vorläufig bis im Herbst, von der Ausgleichskasse Erwerbsersatz beziehen. «Belohnt wird jedoch nur, wer seine Hausaufgaben gemacht hat und genügend in die AHV einbezahlt hat. Professionelle Kulturschaffende, die frisch angefangen haben, von ihrer Kunst zu leben und entsprechend noch nicht viel verdient haben, erhalten sehr wenig», sagt Caviezel. So gebe es in Zug Fälle, die einen Tagessatz von weniger als drei Franken erhalten. «Dann wiederum springt die Ausfallentschädigung in die Bresche.»

Plötzlich wird die Situation prekär
Dass die aktuell geltende Erwerbsersatzordnung ihre Tücken hat, spürt die Komponistin und Pianistin Laura Livers am eigenen Leib. Sie finanziert ihren Lebensunterhalt zu hundert Prozent als Künstlerin. «Zum Teil arbeite ich ausserdem bei Kulturhäusern oder schreibe Rezensionen für Zeitungen. All diese Verdienste fallen nun natürlich auch weg», sagt die Zugerin. «Bei mir kamen mehrere Begebenheiten zusammen, die dazu führen, dass meine aktuelle Situation prekär ist.» Nachdem Livers jahrelang gearbeitet hatte, unter anderem in New York während eines Atelierstipendiums, nahm sie sich 2019 eine Auszeit.
«Genau zu Beginn des Lockdowns war mein Erspartes aufgebraucht», erzählt sie. Sie meldete sich für Erwerbsersatz an, «nur wird dieser dummerweise aufgrund der Steuerdaten von 2019 berechnet. In diesem Jahr verdiente ich einen Viertel von dem, was ich ein Jahr vorher verdient hatte.» In ihrem Fall heisst das: «1100 Franken erhalte ich von der EO. Der Sozialfonds Suisseculture Social übernimmt zudem 280 Franken, damit ich Miete, Krankenkasse, Telefon und AHV zahlen kann. Das geht immer so lange gut, bis die nächste Rechnung kommt», sagt Livers. Ausserdem habe es bei der Auszahlung der Gelder vom Juli Verzögerungen gegeben. «Ich schramme immer wieder haarscharf daran vorbei, betrieben zu werden.» Resigniert fügt sie hinzu: «Ich muss lernen, die unterschwellige Panik abzulegen, die mich seit Monaten begleitet. Mich darauf einzustellen, halt doch Schulden zu machen.»
Auch Martin Riesen hat die Krise zünftig erwischt. Der Zuger ist Leiter des Rock the Docks und Geschäftsinhaber der Grafikanimation GmbH. Zu tun hat er derzeit wenig in seiner Firma. «Im März sind sofort viele Aufträge weg­gefallen, bis jetzt hat sich die Situation nicht ­erholt.» Riesen realisiert insbesondere Videoinstallationen für grössere Veranstaltungen. Und die wiederum finden aktuell nicht statt. «Die Anlässe, die dennoch stattfinden, sind so klein, dass sich eine Videoshow für die Veranstalter nicht lohnt.»
Wie also konnte er sein Leben in den letzten ­Monaten finanzieren? «Als Leiter einer GmbH konnte ich nur für die Monate März bis Mai Kurzarbeit eingeben. Doch wurde beim Kanton bald die Möglichkeit der Ausfallentschädigung für Kulturveranstalter geschaffen, wo ich mich hinwenden konnte, um den Schaden der Firma – abzüglich Kurzarbeit – zu decken. Das war sehr gut. In Zug sind die Wege kurz, ich wurde vom Amt für Kultur sehr zuvorkommend behandelt», sagt Riesen. Seit Juni bezieht er nun EO.
«Nichtsdestotrotz: Ich erhalte zwar EO und konnte Ausfallentschädigung sowie Kurzarbeit beantragen, doch letztlich fehlen mir de facto doch 20 Prozent des vorherigen Lohnes. 20 Prozent des Schadens muss die Firma ausserdem weiter selber tragen», gibt er zu bedenken. Deshalb hat Riesen während des Lockdowns eine Stelle als Fahrer bei der Spitex angenommen. «Dadurch konnte ich etwas Schlaues mit meiner Zeit anfangen und gleichzeitig etwas verdienen. So decke ich meine Einbussen und komme auf einen roten Nuller.»

Die Krise durchgetanzt
Glimpflicher ist die Zuger Tänzerin und Yogalehrerin Julia Kannewischer durch die Krise ­gekommen. «Ich befand mich bis Ende Juni im Atelierstipendium in Berlin, hatte also einen Ort, wo ich sicher war und wo ich tanzen konnte, während andere in ihren engen WG-Zimmern festsassen.» Auch dass das Stipendium des Kantons finanziell unterstützt werde, sei für Kannewischer eine grosse Erleichterung gewesen. «Die Umstände waren im Kontext der globalen Krise perfekt. Abgesehen davon, dass c ich in dieser Zeit sozial komplett isoliert war, weil ja auch in Deutschland alles zu war», sagt Kannewischer. «Für meine Kreativität war die Lage fast hilfreich.» Damit habe sie Zeit und Platz gehabt, um zu arbeiten und sich mit sich selber auseinanderzusetzen. «Daran bin ich persönlich und künstlerisch gewachsen.» Jeden Tag postet Kannewischer ein Tanzvideo auf Instagram. «Ich mache diese Videos schon seit einem Jahr. Nun haben sie jedoch eine neue Bedeutung gewonnen, da man so mit anderen Leuten verbunden ist.» Eigentlich wäre ihr Plan gewesen, während ihrer Zeit in Berlin Netzwerke zu knüpfen und an Vortanzen mitzumachen. «Ich dachte, während dieser sechs Monate finde ich heraus, ob ich länger in Berlin bleiben will.» Nun jedoch ist Kannewischer seit Ende Juni wieder in der Schweiz und wohnt bei ihren Eltern. Vorläufig jedenfalls. «Ich fand, es sei ein guter Punkt, um eine Weiterbildung zu machen. Darum lasse ich mich im Bereich Schauspiel an einer Schule in Berlin ausbilden. Auch wenn ich nicht weiss, wie sich die Bühnenkultur in diesem Jahr entwickeln wird.»
Prekär sei die Lage für sie vorerst nicht. «Ein riesiges Privileg im Vergleich zu anderen Kulturschaffenden, die existenziell mehr betroffen sind», sagt sie dazu.

Positive Seite der Einsamkeit
Dass der Lockdown nicht nur seine schlechten Seiten hatte, hat auch die Kunstschaffende Patricia Jacomella erfahren. Dies, obwohl sie drei Ausstellungen absagen musste und sie ihren Plan eines viermonatigen Aufenthalts in der Cité International des Arts in Paris aufgeben musste.
«Ich vermisste zwar wohl den physischen Kontakt mit Verwandten und Freunden, doch entdeckte ich in dieser Zeit auch die positive Seite der Einsamkeit, Ruhe und des Friedens», sagt Jacomella. Wie Kannewischer habe auch sie Zeit gehabt, über sich und ihre Arbeit nachzudenken. «Ich erlebte eine Zeit ohne Stress und eine Phase voller Kreativität», sagt sie rückblickend. Doch, so relativiert sie, «habe ich das Glück, dass ich als Pensionierte finanziell nicht betroffen bin.»

Was, wenn die zweite Welle kommt?
Blicken wir in eine unschöne, aber realistische nahe Zukunft. Dahin, wo sich die Zahl der Corona-Infizierten erneut exponentiell verhält und erneut schwerer kontrollierbar ist.  Was würde eine zweite Welle für die Behörden bedeuten? Und was für die Kulturschaffenden?
Aldo Caviezel vom Amt für Kultur äussert sich vorsichtig. «Dann wird sich die Situation weiter verschärfen. Die Massnahmen des neuen Bundesgesetzes werden einen Teil abfedern, für den Kulturbetrieb, den Veranstalter- und Eventbetrieb jedoch würde sich ein zweiter Lockdown katastrophal auswirken. Nun bin ich froh, dass ab dem 1. Oktober wieder Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen stattfinden dürfen, und hoffe, dass uns dies auch trotz den aufwendigen und nötigen Schutzkonzepten einen Schritt näher ans gesellschaftliche Leben bringt.» Und dennoch: «Wer nicht viel AHV einbezahlt hat, erhält nicht viel. Die einen empfinden das als Gerechtigkeit, für andere ist das existenzbedrohend.» Von Seiten der Stadt klingt es ähnlich. Stadtpräsident Karl Kobelt gibt zu bedenken: «Eine Normalisierung der Lage, auch für den Bereich der Kultur, ist leider noch nicht in Sicht. Wir werden die Situation weiterhin beobachten. Mit den Kulturorganisationen und den Kulturschaffenden stehen wir in laufendem Kontakt.»

Papierkrieg statt Planungssicherheit
Martin Riesen macht sich keine Illusionen. «Das, was vor dem Lockdown als Erstes gestrichen wurde, waren die Anlässe über 1000 Personen. Das wird auch das Letzte sein, was wieder erlaubt ist.» Und das stellt ihn vor ein grosses Problem: «Ich brauche Planungssicherheit, genau so wie meine Auftraggeber. Wenn immer das Risiko besteht, dass ein Anlass kurzfristig doch abgesagt wird, fragt sich schon, wer einem diese Ausfälle zahlen soll.»
Gleichzeitig stellt die Krise Kunstschaffende vor ganz grundlegende Fragen: «Der ganze Papierkrieg, um an Gelder zu kommen, ist eine Sache. Nun scheint die Krise jedoch langfristig zu werden, wodurch die Ungewissheit bleibt. Wie lange mache ich das noch? Sollte ich eher schauen, dass ich beispielsweise ein halbes Jahr an einem ganz anderen Projekt für mich arbeite. Doch auch dafür bräuchte ich Investoren», sagt Riesen. Und dennoch schwingt bei der einen oder anderen Betroffenen leise Hoffnung mit. Julia Kannewischer etwa denkt bereits über die zweite Welle hinaus. An Möglichkeiten, denen das ­Coronavirus nichts anhaben kann: «Eine Frage, die ich mir aktuell stelle: Wie kann man diese Online-Sache zu etwas Relevantem machen? Zwar haben viele Kulturschaffende online gearbeitet in den letzten Monaten. Doch kam bald die ­Müdigkeit.» Sie ergänzt: «Wie kann man Online-Formate schaffen, die eine gleich grosse ­Bedeutung haben wie Liveanlässe, diese jedoch nicht ersetzen.»
Patricia Jacomella sagt dazu: «Kommt die zweite Welle, wird sie auch meinen zweiten geplanten Studienaufenthalt in Berlin verhindern.» Dennoch sei sie psychisch auf das Virus vorbereitet und versuche, auch neue, positive Seiten an der Situation zu entdecken. «Oder wie wir auf Italienisch sagen: Nicht alles Böse schadet.»

(Text: Valeria Wieser)

Box: Gestrandet in Buenos Aires

Der Zuger Künstler Lukas Meier steckt seit dem Ausbruch von Covid-19 in Buenos Aires fest, wo er ein Musikvideo für die Zuger Band Humanoids drehen wollte – was nach dem Ausbruch nicht mehr möglich war. «In Buenos Aires herrscht totales Kontaktverbot», sagt er, «wir dürfen nur fürs Wichtigste aus der Wohnung. Die Leute haben teilweise solche Angst vor dem Virus, dass sie sich gegenseitig denunzieren. Das ist ein seltsamer ­Zustand. Gleichzeitig geht es den Kulturschaffenden hier wirklich schlecht. Einige meiner Bekannten haben überhaupt kein Einkommen mehr, und dann hilft niemand. Ich habe meine Zeit in der Quarantäne damit verbracht, Illustrationen zu erarbeiten, auch um einen Umgang mit der Situation zu finden.» Alle Illustrationen und Bilder dieses Artikels stammen von Lukas Meier.