Coronopera und singen auf Zoom

Kunst & Baukultur, Theater & Tanz, Musik

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Niemals? Doch, auf jeden Fall kann die Bühne auch online berühren, so die Musikerin Laura Livers. Sie arbeitet in der Quarantäne an einer Online-Oper.

  • Die Coronoperisten von links nach rechts: Laura Livers - Komposition, Nadja Häupl - Grafik, Vera Häupl - Dramaturgie, Maike Schuster - Regie, Viktor Sommerfeld - Schnitt & Color Grading. Bild: PD
    Die Coronoperisten von links nach rechts: Laura Livers - Komposition, Nadja Häupl - Grafik, Vera Häupl - Dramaturgie, Maike Schuster - Regie, Viktor Sommerfeld - Schnitt & Color Grading. Bild: PD
  • So sieht das aus, Singen auf Zoom.
    So sieht das aus, Singen auf Zoom.
  • Wenn alle einsam musikalisch atmen müssen: Laura Livers im Homeoffice.
    Wenn alle einsam musikalisch atmen müssen: Laura Livers im Homeoffice.
Zug (Kanton) – Dieser Beitrag der Musikerin Laura Livers ist in der Juni-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

Wer Kunst* studiert, begegnet unweigerlich Walter Benjamins Werk mit dem Titel «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen ­Reproduzierbarkeit». Die Hauptaussage? Durch die massenhafte Vervielfältigung und das ver­änderte Abbilden der Wirklichkeit verliert das Kunstwerk seine Aura. Simplifiziert übersetzt: Jegliche Vervielfältigung eines Werkes kann nie mit dem Original auf einer Stufe stehen und ist so unweigerlich eine minderwertige Version des eigentlichen Werkes. Dieser Gedanke findet sich, besonders im klassischen Musikbereich, noch heute. Musik ist Zeitkunst. Sie lebt im Moment ihres Erklingens, vergräbt sich in den Köpfen der Zuhörer und wird zu einem flüchtigen Gedanken, der nie wiederkehren kann.
Diese Haltung hielt der Quarantäne nicht stand.

Flucht in die digitale Welt
In Abwesenheit der gewohnten Publikumssituation standen viele Musiker*innen vor dem Nichts und flüchteten notgedrungen in die digitale Welt. Nur um zu realisieren, dass das nicht so einfach geht. Das Format des Live-Streams erschöpfte sich schnell, für Performende wie Publikum zugleich. Beide spüren, dass etwas fehlt. Dass der Raum nicht mit Wi-Fi kompensiert werden kann. Dass Werke, deren Intention das Live-Moment sind, auf Video nicht ihre Wirkung entfalten können.
Neidisch verfolgt man den Output jener Sparten, die schon immer für den individuellen und reproduzierbaren Konsum kreiert wurden: Literatur, Filme, Podcasts, sogar Popmusik. Und was sollen bühnengebundene Künstler*innen nun tun? Sie können das akzeptieren, die künstlerische Vielfalt momentan verkümmern lassen und abwarten, oder sie nutzen das Auftrittsverbot und erfinden ihr Metier neu.

Ein altes Problem mit neuer Ausgangslage
Eine Sparte, welche von dieser Bühnenpause profitieren kann und muss, ist die Oper. Wir denken bei diesem Wort an dieselben Bilder: opulente Kostüme, grosses Orchester, virtuose Sänger, unverständliche Worte, problematische Inhalte. Die Oper, wie sonst fast keine Kunstform, hat sich in den letzten 150 Jahren nicht stark gewandelt. Es werden auch heute kommentarlos Werke aufgeführt, in denen eine «nicht westeuropäische Herkunft» gnadenlos fetischiert wird; es wird hingenommen, dass Frauen auf der Bühne auf ihre Beziehung zu den Männern reduziert werden – Mutter, Tochter, Ehefrau, wo Klassizismus zelebriert wird und die gesellschaftlichen Errungenschaften der Neuzeit ignoriert werden.

Das hat sich auch mit dem Aufkommen der zeitgenössischen Oper nicht stark geändert: Mehrheitlich von «weissen, älteren Männern» komponiert für klassisches Orchester, über Themen, welche in der heutigen Zeit wenig bis keine Relevanz haben und zum Teil durch ihren unsensiblen Umgang mit Geschlechterrollen und Sexualität für mehr Schamgefühl als Euphorie sorgen. Sie entzog sich technischer Neuerung und schwelgte in Erinnerung an die guten, alten Zeiten. Und dann kam Corona. Und die Opernwelt stand still.

Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt
Mindfuck Coronopera, eine digitale Oper für freiwilliges Ensemble sieht diesen Stillstand als Chance. Mit 85% Frauenanteil, einem Durchschnittsalter von 26 Jahren und einer flexiblen Arbeitsteilung könnten wir progressiver nicht sein. Der liebevoll gemeinte Zusatz Coronopera bindet dieses Werk untrennbar an das Jahr 2020 (Fingers crossed!). Es ist ein Werk, welches das Hier und Jetzt abbildet mit allen technischen und künstlerischen Möglichkeiten und Facetten, die uns zur Verfügung stehen.
Im Zentrum die grosse Frage: Wie klingt eine Oper, die unsere Realität abbildet? In Anlehnung an das dokumentarische Theater – bekannt geworden durch Milo Rau und das Rimini Protokoll – beschäftigt sich Mindfuck mit dem Leben seiner Performer*innen. Sie erschufen eine alternative Version von sich selbst und leihen uns ihre Worte, ihre Gedanken und Sorgen. Sie geben uns Listen von verfügbaren Gegenständen, Fotostrecken ihrer Wohnungen für das Bühnenbild und nachbarkonforme Übepläne für die Tonaufnahmen.
Mittels Google-Docs, Slack-Channels, Telegram-Gruppen und Chat-
Protokollen entstand innert weniger Wochen ein Paralleluniversum, das wir nun in 5 Akten der Aussenwelt präsentieren. Mindfuck handelt von der Einsamkeit in der Isolation, von Verdrängungsmechanismen, dem schwelenden Generationenkonflikt, von Verschwörungs- theorien, ausartender Screentime, aber auch vom ganz normalen Alltag, der Sehnsucht nach Nähe und Normalität.

Zwischen den Noten
Klassische Musik basiert auf der Idee des Atems. Melodien und Phrasierungen werden nicht nach einem starren Metrum gespielt, sondern nach einem – fast unbeschreibbaren – Gefühl. Die Eigendynamik eines Ensembles auf der Bühne lässt sich kaum in eine Partitur notieren.
Das kann ein Blickkontakt sein, ein gemeinsames Einatmen, eine Zuckung in der Schulter oder die unerschütterliche Gewissheit, dass alle exakt in dieser Millisekunde ihren Einsatz spielen, und das Vertrauen, dass es exakt so passieren wird.
Und nun habe ich als Komponistin ein Ensem­ble, welches durch die Isolation seines Könnens beraubt wurde. Es gibt kein musikalisches Kennenlernen, keine gemeinsame Kaffeepause, keine Gruppendynamik, kein gemeinsamer Atem. Es gibt nur digitale Partituren, Clicktracks, und Erklärungen, die via Skype nun mal nicht so viel Sinn ergeben, wie wenn man im gleichen Raum stehen würde.
Für meine Arbeit als Komponistin bedeutet dies, mein Bauchgefühl, meine Intuition und Ästhetik, die ich jahrelang trainiert und verfeinert habe, auf die ich mich immer verlassen kann, die existenziell für mich sind, auf den Müll zu schmeissen. Denn die waren – genauso wenig wie ich – auf diese Situation vorbereitet.

Mikromanagement und Freiheiten
So pragmatisch die Lösung dieses Problems wäre, so fragil ist sie in der Realität: Je mehr Angaben ich in die Partitur schreibe – jenseits von Noten und Tonhöhe –, desto genauer wissen die Musiker*innen, was sie tun sollen. Schreibe ich aber jede Mikroverschiebung in Tempo und Dynamik in die Partitur, entmündige ich die Musiker*innen. Und wenn ich zu wenig reinschreibe, werden die Aufnahmen zu individuell und lassen sich nicht zusammenfügen.
Dieses Komponisten-Dilemma zwischen der Umsetzung unserer Vision und dem Zulassen des Individualismus der Performer*innen ist nicht neu, nimmt aber ungeahnte Züge an, je länger wir in Isolation sind. Die feinen Unterschiede im Musikverständnis, die verschiedenen Musikbiografien und Geschmäcker, deren Ausarbeitung überhaupt erst der Grund für eine Probesituation ist, zeigt sich nun unüberhörbar auf jeder einzelnen Aufnahme, und zwar im Fortissimo.
Also muss ich für jedes Stück die Aufnahmesituation in die Partitur hineinkomponieren und das Fehlen der Gruppendynamik kompensieren. Dabei gilt es auf zwei Aspekte zu achten: Wer gibt das Tempo und wer den Basiston des Akkordes für die Intonation? Und dann: Wo und wie lange hält diese Person diese Funktion inne? Das Resultat ist ein Puzzle meiner musikalischen Ideen und dieser funktionalen Überlegungen, das keine Endlösung besitzt. Ich muss für jede Szene meine Vorstellungskraft neu einpendeln, alle Fehler und Missverständnisse vorausahnen. Ich muss bedenken, wer welche ­Mikrofone zu Hause hat, wer tendenziell zu tief intoniert, wer von Clicktracks irritiert ist, und dabei meine Kreativität nicht verlieren.

Encore une fois, s’il-vous plaît
Und dann, wenn wir alle Denkfehler ausgemerzt haben, unsere Musiker mit Mikofonen vertraut gemacht haben, die Szene aufgenommen, geputzt und gemischt ist, dann machen wir den genau gleichen Prozess noch mal. Nur diesmal für die Kamera. Anders als auf der Bühne müssen wir in jeder Sekunde unsere Zuschauer an die Hand nehmen und sie durch unser Mindfuck-Universum führen, eine Welt, die wir selber auch erst am Entdecken sind. Mittels Zoom-Gruppencalls lernen unsere Performer*innen über Perspektiven nachzudenken, wir reden über Bildsprache und experimentieren mit Tischlampen und definieren in Echtzeit eine Ästhetik, von deren Existenz wir vor Corona noch nichts gewusst haben.
Wir sind Fische, die eines Morgens im Trockenen aufgewacht sind, und bemerkten, dass uns über Nacht ein Paar Beine gewachsen sind, mit denen wir nun das Land erkunden. Wir sind der menschgewordene Mindfuck.
Und weil wir aber auch Künstler*innen sind, verarbeiten wir den und teilen ihn mit dem Rest der Welt.

(Text: Laura Livers)

Und so sieht das aus, Online-Oper: Erster Akt, erste Szene




Erster Akt, Szene zwei



Erster Akt, Szene drei