Die ganze grosse Freiheit

Musik

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Seit dreissig Jahren spielen sie Musik für das Jetzt. Die Zuger Werkstatt für improvisierte Musik hat Grenzen gesprengt. Und viel Neues geschaffen.

  • Musik in Freiheit, Freiheit in der Musik: Eine Tuba wartet auf ihren Einsatz. (Bilder: Nora Nussbaumer)
    Musik in Freiheit, Freiheit in der Musik: Eine Tuba wartet auf ihren Einsatz. (Bilder: Nora Nussbaumer)
  • Werner Iten beim Spielen der Armierungseisen-Schnapsfass-Trommel.
    Werner Iten beim Spielen der Armierungseisen-Schnapsfass-Trommel.
  • Seltsame Instrumente für mehr Spielraum.
    Seltsame Instrumente für mehr Spielraum.
Zug – Dieser Text ist in der August-Ausgabe (#71) des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

Der Mensch ist eine Assoziationsmaschine. Fragt man beim Smalltalk nach dem Beruf, bekommt man eine kleine Lebensgeschichte zu hören: Eins führt zum andern.
So geht auch Improvisation. Den ersten Ton muss man absichtlich spielen. Der zweite folgt aus dem ersten, vielleicht folgt man dem inneren Puls, den man plötzlich spürt, und die nächsten Töne kommen ganz selbstverständlich, ohne Ziel, ohne Absicht, frei. Er fühle sich immer sehr beschwingt nach einer Improvisationssession, erzählt Werner Iten, eines der Gründungsmitglieder der ­Zuger Werkstatt für improvisierte Musik, kurz WIM.
Die Zuger WIM gibt es seit den Neunzigern, in diesem Jahr feiern sie, dass vor dreissig Jahren eine Gruppe Musiker in einem Zuger Atelier das erste Mal zusammenfand. Um Musik zu machen, die niemand je hörte und niemals mehr jemand hören wird.
Das Kollektiv entstand nach dem Modell des Zürcher Pendants. Und wie auch dort veränderte sich die Zusammensetzung der aktiven Musiker ständig. Viele Musiker kamen dazu, spielten in der Werkstatt mit, an den Proben oder an einem Auftritt, schlossen sich anderen Improvisationsformaten an. Kamen zurück oder trieben wieder davon, zu eigenen Projekten.
Beim Konzert vom 20 Juni dieses Jahres spielte beispielsweise der Schlagzeuger Christian Bucher, der sonst mit einer unglaublichen Anzahl an Projekten die Welt bereist. Etwa mit dem Freejazz-Trio Bucher Tan Countryman, das erst im letzten Jahr die Platte «Empathy» aufgenommen hat. Da gibt es auch Saadet Türköz, eine Zürcher Sängerin, die gerne auch mal den musikalischen Einfluss ihrer Wurzeln in Ostturkestan zeigt.

Immer wieder Platz für Neues
Oder Barb Wagner, sie ist ebenfalls ein Gründungsmitglied des Kollektivs. Aber eigentlich wichtiger ist es, sie als Pianistin und auch als bildende Künstlerin zu kennen. Barb Wagner macht Klanginstallationen ausserhalb des Kollektivs, und innerhalb baut sie manchmal ihr Piano um.
Oder Jonas Inglin, ein junger Zuger Posaunist, der seit einigen Jahren in verschiedensten Projekten engagiert ist, als Chordirigent, für fallweise Engagements bei der Sinfonietta Basel oder im Duo Amstad Inglin.

Zwischen zwei Räumen
Heute hat das Improvisationskollektiv zwei Orte, zwischen denen es pendeln kann. Einerseits einen Atelierraum in Baar. In der ehemaligen Teefabrik trifft man sich zur offenen Werkstatt, und das Publikum kommt zu Konzerten. Und anderseits in der G.Bar der Gewürzmühle in Zug. Dort findet der andere Teil der jährlichen Konzertreihe statt. Einmal im Jahr ist die WIM Zug zudem im Theater im Burgbachkeller zu ­sehen. Ein Grund für das lange Bestehen der Werkstatt für improvisierte Musik sei wahrscheinlich unter anderem diese Vielfalt, meint Werner Iten. Gastmusiker und Wechsel in der Gruppe geben immer wieder einen frischen Impuls. So habe man keine Chance, sich als Gruppe so sehr aufeinander abzustimmen, dass kein Platz für Neues mehr bleibt. Denn Neues gab es immer wieder.

Dirigierte Improvisation
2006 wurden die Improvisierenden das erste Mal dirigiert. Ein Widerspruch? Nur vielleicht. Der spanische Musiker Josep Maria Balanya entwickelte Gesten zum Dirigieren von Improvisationen. So hält er die Musiker des «Orchesters» dazu an, lauter, leiser, schneller, höher, tiefer oder gar nicht mehr zu spielen. Und die Musiker tun es. Oder auch nicht. Immerhin bleibt es Improvisation, die ihren Sinn verlieren würde, wenn zu viel Planbarkeit ins Spiel kommt.
Ein anderes Mal spielte die WIM ein Konzert, bei dem die Improvisation auch plötzlich zu sehen war. Die Musiker wechselten vom Instrument zur Leinwand und wieder zurück. Das Bild wurde Teil der Improvisation, und nur mit der Musik war das Bild vollständig.

Ein unbeabsichtigter Jodel
Improvisation reisst Grenzen nieder, weiss Werner Iten aus seiner Erfahrung beim Kollektiv. Genregrenzen wirken lächerlich, wenn man versucht, die im Moment entstandene Musik zu kategorisieren. Mit jedem neuen Mitglied verändert sich die Musik, und in jedem neuen Raum, ob Betonbau oder Burg, entsteht anderes. Als bei der letzten offenen Werkstatt ein Sänger ­dabei war, entstand plötzlich ein Kehlkopfgesangs-Part, der einem Jodel verblüffend ähnlich war. Keiner der Musiker hatte das beabsichtigt.
Improvisation ist sensibel im Ausdruck und gleichzeitig aggressiv schrankenlos. Geräusche werden Teil des Stücks, Klangteppiche schaffen sich Platz, und Musik schwappt manchmal sogar in sichtbare Bilder über. Zum 20-Jahr-Jubiläum konnte die WIM mit dem Ensemble für neue Musik Zürich zusammenarbeiten. Werner Iten erinnert sich, wie verblüffend ähnlich komponierte, zeitgenössische Stücke und spontan erschaffene Improvisationen klangen.

Kein Smalltalk auf der Bühne
In letzter Zeit habe die WIM ein wenig zu ihren Wurzeln zurückgefunden, sagt Werner Iten. Zur offenen Werkstatt kamen öfters wieder jüngere Musiker oder Musikstudenten, ob sie vom Jazz, der Klassik oder sogar von der Volksmusik herkommen, für alle steht dann die gemeinsame Improvisation im Fokus.
Improvisation sei ganz ähnlich wie ein Gespräch. Man antwortet einander, hört zu, widerspricht oder wiederholt. Und manchmal, eben ganz wie im Gespräch, trägt man das meiste bei, indem man an den richtigen Orten schweigt. Und das kann man lernen. Die Zuger Werkstatt für improvisierte Musik hat auch Workshops durchgeführt. Da gibt es dann Fingerübungen für Rücksicht, Anfänge, Zuhören und die Königsdisziplin: einen gelungenen Schluss. Viel zu leicht passiert es, dass sich Improvisationen in die Länge ziehen und längst langweilig sind, ohne dass die Musiker etwas dagegen tun können. Es ist eine Kunst, den musikalischen Smalltalk elegant zu umgehen.

(Text: Lionel Hausheer)



So lässt sich die WIM erleben

Die WIM Zug spielt in der nahen Zukunft zwei Konzerte. An der Zuger Kunstnacht vom 19.  eptember bespielen WIM-Musiker mit Gastmusiker Christy Doran die Performances und Installationen des Atelierhauses Gewürzmühle zwischen 17 Uhr und 24 Uhr. Am 26. November ist die WIM Zug im Zuger Burgbach Kellertheater. Wer übrigens selber mitimprovisieren möchte, kann am 4. September zur offenen Werkstatt der WIM gehen, ab 20.30 Uhr an der Lättichstrasse 3 in Baar.