Tröpfcheninfektion verbindet

Theater & Tanz

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Nach dieser Sommerreise lädt uns der Autor Rémy Frick dazu ein, einen magischen Moment wiederzuentdecken. 
Mit einer grossen Liebeserklärung an die Bühne.

  • Rémy Frick als Zeus im Stück «Lysistrate» kurz vor der Ankunft der Pandemie in der Schweiz.
    Rémy Frick als Zeus im Stück «Lysistrate» kurz vor der Ankunft der Pandemie in der Schweiz.
Zug (Kanton) – Dieser Beitrag von Rémy Frick ist in der Juni-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Beiträgen.

Das Licht entschwindet ganz langsam. Mit einsetzender Finsternis im Saal nimmt auch der Geräuschpegel ab. Die Zuschauerinnen und Zuschauer beenden den letzten Hauptsatz. Frau stellt noch schnell die Handtasche zu Boden. Mann zieht nun doch noch schnell das Jackett aus und legt es adrett zusammengefaltet auf die Knie. Bald bemächtigen sich völlige Dunkelheit und Ruhe des Raumes. Alle Augen sind nach vorne auf die Bühne gerichtet, die Anwesenden warten. Diese Sekunden sind absolut magisch, jene Sekunden, in welchen es schon vollkommen dunkel ist und man weder etwas hört noch sieht.

Ein hauchzarter Ton
Dann gehen die Lichter an. Es muss nicht immer knallen, keineswegs wird es immer gleich taghell. Manchmal nur der Hauch eines Lichtstrahls - aber dieser zieht unweigerlich alle Augen im Saal im wahrsten Sinne in seinen Bann. Oder in die vollkommene Dunkelheit und Ruhe ertönt ein erster, hauchzarter Ton, ein Geräusch - wie aus einer anderen Welt.
Raum und Zeit werden ganz langsam ausgehebelt - die sonst so allmächtige Zeitachse verflüchtigt sich ins Nichts, der Raum wird durch das Licht verändert, reduziert, erweitert.

Der magische Tod
Opernhaus Zürich - «Tristan und Isolde» von Richard Wagner. Fünfeinhalb Stunden mit einigen Pausen. Internationale Starbesetzung. Die Zeit vergeht wie im Fluge, die Musik trägt mich durch Raum und Zeit! Auf der Bühne intimere Szenen mit fünf oder sechs Personen, dann wieder Riesenaufmärsche mit bis zu 50 Spielenden auf der Bühne. Wallende Gewänder; federngeschmückte Hüte aus längst vergangenen Zeiten, flankiert von Schmettereinsätzen einer Phalanx von Dutzenden Trompeten; glänzende Rüstungen und mächtige Helme; Kämpfe mit grossen, zweihändigen Schwertern oder grossartigen Arien; düstere Lichteinstellungen in von Bühnenbildnern kunstvoll gestalteten Höhlen; oder lichtdurchflutete Einstellungen, glühende Mittagshitze skizzierend. Dann letzter Akt, letzte Szene, letzter Einsatz - «Isoldes Verklärung», nennt der Komponist die Szene. Die Sängerin, mindestens anderthalb Köpfe kleiner als der hinter ihr stehende Tristan.
Er ist ein isländischer Hüne mit langen, wallenden weissen Haaren - ein Mann wie eine nordische Eiche. Eine Stimme wie ein ausbrechender Vulkan. Vor ihm die kleine zierliche Isolde. Er legt seine grossen mächtigen Arme um die Frau. Im vollbesetzten Saal des altehrwürdigen Opernhauses - rund 1000 Menschen - würde man eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Sie singt die letzten Zeilen, die letzten Worte der fünfeinhalbstündigen Oper. Sie haucht sie förmlich aus. Nach einer Sekunde der Stille - in diesem gewaltigen Haus, auf jener gigantischen Bühne - lässt die Sterbende in die Todesstille den Kopf ganz leicht zur Seite sinken - es sind wohl nicht mehr als zwei Finger breit. Man spürt ihn, den Tod, man riecht ihn - in diesem kolossalen Raum.
Und dann sind sie da, diese drei, vier oder fünf Sekunden. Die aufzuführende Oper ist vorbei, die Geschichte beendet. Aber das «normale» Leben ist noch nicht zurückgekehrt. Es sind diese verzauberten Sekunden im schwerelosen Raum - kein Hüsteln, kein Räuspern - nichts ! Absolute Stille. Und dann geschieht etwas wirklich Zauberhaftes, etwas Einmaliges. Die Zeit verschiebt sich. Diese Sekunden kommen mir vor - auch heute noch, Jahre danach - wie Minuten. Endlos. Dann - wie eine gigantische Welle, die an Klippen zerbirst - setzt der Applaus ein.


Tröpfcheninfektion
Im Burgbachkeller auf der Bühne, die Zuger Spiillüüt führen ihr Stück auf. Ich stehe auf der Bühne, gehe in meiner Rolle auf. Bin mehr jener im Stück als mich selber. Die Zuschauerinnen und Zuschauer der ersten Reihe sind ganz nah - auf der Bühne stehend spürt man sie ganz genau, ihre Wärme, ihre Aufmerksamkeit. Hin und wieder hört man ihren Atem.
Dann niest der ältere Herr auf Platz 001. Und auf meinem Schuh, meinem Kostümschuh, sehe ich einige kleine Tröpfchen. Das ist Kleintheater: «Wenn ein Zuschauer in der ersten Reihe niest, hast Du als Schauspieler nasse Schuhe!»
Eine Tröpfcheninfektion ganz anderer Art. Der Herr auf Platz 001 inspiriert mit seinem Tun. Er dokumentiert und unterstreicht auf ebenso beeindruckende wie profane Art und Weise die Nähe, den Zusammenhalt im Saal, das Gemeinsame. Das gemeinsam Er- und Gelebte.
Die Tröpfchen auf den Schuhen auf der Bühne - eine geradezu prädestinierte Überleitung zu dem was uns im Land, auf dem Kontinent, auf der ganzen Welt zur Zeit «passiert». Dieses mikroskopisch kleine Etwas hat Wirkungen, die wir nie für möglich hielten und deren Spätfolgen wohl noch keiner so richtig ermessen oder umschreiben kann.

Harte, sehr harte Zeiten
Auch Theater und Oper liegen aktuell im Dornröschenschlaf. Keine vollen Säle, keine Sterbeszenen in absoluter Stille, keine nassen Schuhe auf der Bühne mehr.
Für Liebhaberinnen und Liebhaber von Bühnenaufführungen jeglicher Art sind dies harte, sehr harte Zeiten. Durchaus ehrbar und in der Gesinnung edel alle Versuche von Künstlerinnen und Künstler, sich via Internet bemerkbar zu machen; Konzerte via Video-Lifeschaltung - alles Versuche, den Kulturbetrieb auf Sparflamme aufrecht zu erhalten. Hat vielleicht auch hin und wieder über die schlimmsten Augenblicke dieser Krise hinweggeholfen. Aber niemals werden solche elektronisch übermittelten Bühnenspiele mit zwischengeschaltetem Bildschirm, Mikrochip und Kameralinse, nie und nimmer werden solche Aufführungen die Atmosphäre und die Stimmung einer reellen Aufführung ersetzen können. Niemals.

Genesung in Sicht
Sie werden wiederkommen, jene Aufführungen und Konzerte mit Menschen aus Fleisch und Blut im Zuschauerraum und auf der Bühne. Jene Aufführungen, in welchen Menschen anderen Menschen Geschichten erzählen, ob nun in Worten, mit Tanz, Musik oder Gesang. Sie werden wiederkommen, jene Augenblicke, in welchen Hundert oder viel mehr Menschen, wild zusammen gewürfelt im Saal sitzen werden. Verbunden nur durch ihre Anwesenheit jenen auf der Bühne lauschen und zuhören und gemeinsam mitvibrieren werden.
Sie werden wiederkommen, jene Zeiten, in welchen wir vor dem Theater über das Gesehene und Gehörte werden fabulieren können.
Eines kann ich hier und jetzt diesem allgegenwärtigen Coronavirus zusichern - es wird mit Sicherheit in Theater und Musik Eingang finden! Denn Theater, Tanz und Musik sind ganz hervorragende Möglichkeiten, Erlebtes und Traumatisierendes zu verarbeiten.
Bis dahin leben wir von unseren Eindrücken und Erlebnissen, die wir bis dato in unseren Herzen, Seelen und Köpfen gespeichert haben. Oder wie sagte es so trefflich die Figur des Dr. Johannes Pfeiffer in der «Feuerzangenbowle»:

«Wahr sind nur die Erinnerungen, die wir mit uns tragen; die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns treiben. Damit wollen wir uns bescheiden.»

Zumindest jetzt.


(Autor: Rémy Frick)